KISS Interview: Verlassene Eltern Selbsthilfegruppe

Interview im KISS Selbsthilfemagazin 2019

Die wichtigste Frage: Warum?
Verlassene Eltern leiden lange unter der Ungewissheit und dem Schweigen ihrer Kinder

Eltern, die von ihren erwachsenen Kindern ohne Begründung verlassen werden, erleben eine emotionale Achterbahnfahrt und fragen sich immer wieder nach dem Warum. In Kassel gibt es eine Gruppe für „Verlassene  Eltern“. Wie groß der Bedarf ist, zeigt sich daran, dass die Gruppe bereits voll ist und es eine Warteliste gibt. Ein Interview mit der  Gruppengründerin.

KISS-Magazin: Seit wann gibt es die Gruppe und warum haben Sie sie gegründet?

Gruppengründerin: Die Gruppe existiert seit Februar. Für mich geht es um Hilfe zur Selbsthilfe, nicht alleine zu leiden, sondern diese Lebenssituation gemeinsam mit anderen Eltern zu meistern. Erschrocken hat mich, wie viele verlassene Eltern es gibt und dass dieses Thema in allen Schichten vorkommt. Beim ersten Treffen sind bereits 20 Eltern mit und ohne Partner gekommen, mittlerweile sind zehn regelmäßig dabei. Die Gruppe hat sich sehr gut zusammengefunden. Wichtig ist die strikte Schweigepflicht.

KISS-Magazin: Wie lange ist es her, dass die Kinder gegangen sind?

Gruppengründerin: Manche Kinder haben erst vor kurzen den Weg gewählt, bei anderen Eltern ist es schon 20 Jahre her. Das zeigt, wie lange manche Eltern leiden. Die Kinder sind oft schon voll im Beruf, wenn sie gehen, und haben schon Familien. Manche verfolgen das Leben ihrer Kinder aus der Ferne, da sie fast immer Menschen kennen, die noch Verbindungen haben. Viele möchten diese Infos gar nicht. Sie schießen wie ein Dolch durch den Körper.

KISS-Magazin: Mit welchen Problemen, Themen und Fragen kommen die Eltern in die Gruppe?

Gruppengründerin: Bei allen steht eine Frage an erster Stelle: Was ist der Grund? Weiterhin geht es um Themen wie: Sollen wir etwas unternehmen oder nicht? Sind wir wirklich so schlechte Eltern? Wir Eltern fragen uns auch, was im Alter passieren wird. Keiner möchte diesen Kindern auf der Tasche liegen und keiner möchte von ihnen gepflegt werden. Niemand will den Kindern zur Last fallen. Auch die Frage nach dem Erbe stellt sich. Das Erbrecht sollte überarbeitet und Pflichtteile gestrichen werden. Der letzte Wille ist jedem selbst zu überlassen.

KISS-Magazin: Was löst es in den Eltern aus, wenn die Kinder ohne Begründung gehen?

Gruppengründerin: Es zerreißt das Herz. Vor allem bei den Müttern. Sie glaubten, alles für ihre Kinder getan zu haben. Viele – Väter wie Mütter – werden sogar körperlich krank, bekommen chronische Schmerzen oder Burn Out. Ich selbst hatte Fibromyalgie. Die Ungewissheit über den Grund und das Schweigen der Kinder verursachen eine große Leere. Vor allem die Mütter stehen unter Dauerspannung. Vielleicht kommt das Kind ja zurück, vielleicht nicht. Im Grunde gibt es nur zwei Optionen für die Eltern. Um eine respektvolle Beziehung zu kämpfen und die Hoffnung nicht aufzugeben oder sich zu lösen und zwar mit allen Konsequenzen. 

KISS-Magazin: Wirkt sich diese einschneidende Erfahrung auch auf die sozialen Beziehungen aus wie Freundschaften oder die Partnerschaft?

Gruppengründerin: Auf jeden Fall. In den Familien, in denen leiblicher Vater und Mutter die Grundfamilie bilden, wählen die Partner oft verschiedene Wege, mit der Situation umzugehen. Das belastet die Beziehung. Wobei die Väter unter der Situation genauso leiden, nur eher im Stillen. Bei Patchwork Familien ist es häufig schlimmer. Dort taucht so etwas auf wie „meine Kinder, deine Kinder.“ Man kämpft auf mehreren Gefühlsebenen, Elternherz und die Liebe zum Partner. Wenn noch andere Kinder da sind, hat man Angst, diesen nicht gerecht zu werden. Emotional ist das wie eine Achterbahnfahrt. 

KISS-Magazin: Fühlen sich die Eltern auch einsam, alleingelassen, ausgegrenzt?

Gruppengründerin: Das kann ich eindeutig mit Ja beantworten. Die Kinder haben oft Partner. Die Eltern dieser Partner dürfen womöglich das Leben des eigenen Kindes miterleben, während man selbst ausgegrenzt wird. Freunde und Bekannte grenzen sich ab oder auch die Eltern von ihnen. Weil unterschwellig so etwas mitschwingt wie: Irgendwas muss ja wohl passiert sein. Oft erfahren nur die engste Verwandtschaft und wirklich gute Freunde, was passiert ist. Es ist ein Tabuthema, die Eltern schämen sich, haben Angst und Schuldgefühle. Andere Menschen erzählen, was ihre Kinder machen. Und dann kommt unweigerlich die Frage, was machen denn eure? So etwas vermeiden viele Eltern lieber und meiden den Kontakt. Als Konsequenz lassen die Eltern kaum noch jemand in ihre persönliche Nähe. 

KISS-Magazin: Hilft die Gruppe auch gegen das Gefühl von Alleinsein?

Gruppengründerin: Ganz wichtig ist die Erfahrung, kein Einzelfall zu sein. Wir müssen uns nicht verstecken und können offen damit umgehen. Die Gruppe macht deutlich: Wir sind keine kriminellen Eltern, eher zu gute Eltern, die irgendwann durch ein Missverständnis oder gar durch Ignoranz in den Augen der Kinder etwas falsch gemacht haben. Viele sind erleichtert, sich endlich mit anderen Eltern auszutauschen, denen es genauso geht. Reden hilft. Die Eltern bekommen etwas mehr Sicherheit. Sie müssen sich nicht erklären, für nichts entschuldigen oder schämen. Andere zehren davon, dass Eltern es geschafft haben loszulassen. Eine Frau erzählte, als sie den Artikel in der Zeitung über die Gruppe gelesen hatte, schrieb sie einen Brief an die Kinder: Ich bin nicht mehr alleine. Wir fragen aber immer nach: Möchtet ihr etwas über meine Situation hören? Oder ist euch das zu viel? Wir gehen sehr achtsam miteinander um. Manchmal tauchen sogar die Kinder wieder auf. Das ist emotional ebenfalls nicht einfach, denn die Beziehung wird nie wieder so werden wie früher.

KISS-Magazin: Was können die Eltern tun?

Gruppengründerin: Das kann man schwer sagen. Das Kind bleibt ja Kind und immer präsent. Ganz schlimm ist es, wenn Enkelkinder da sind, die man vielleicht nie kennenlernen wird. Um den Schuldgefühlen zu entgehen, muss man sich immer wieder sagen: „Ich habe alles getan was ich tun konnte. Die andere Seite hat eine endgültige Entscheidung getroffen.“ Die sollte man respektieren, sich aus der emotionalen Bindung lösen. Aber jeder Elternteil geht anders damit um. Unser Ziel ist, das eigene Leben so gut wie möglich zu leben.

KISS-Magazin: Vielen Dank für das Interview.

Mehr Informationen zur Gruppe finden Sie  hier (Öffnet in einem neuen Tab)