KISS Interview: Selbsthilfegruppe Morbus Huntington

Interview im KISS Selbsthilfemagazin 2015

So eine Krankheit hatte man nicht
Gruppe zu Morbus Huntington macht Mut und nimmt Schamgefühle

Morbus Huntington ist eine seltene, vererbbare neurologische Erkrankung, die sehr individuell verläuft. Weil die Erkrankten im Nationalsozialismus „als unwertes Leben“ verfolgt wurden, herrscht bis heute in den Familien Verdrängung und Scham. Eine Selbsthilfegruppe in Kassel macht Betroffenen und Angehörigen Mut. Hier kommen Menschen zusammen, die gemeinsames Schicksal teilen.

Beim ersten Treffen der Gruppe für Huntington-Erkrankte und Angehörige im November 2014 saßen 13 Menschen aus fünf Familien im KISS-Selbsthilfetreffpunkt in Kassel zusammen. Die große Resonanz überraschte auch die Gruppengründer Andrea Reinhold und ihren erkrankten Lebensgefährten Jörg Gohlke. Manche sprachen vielleicht erstmals über die Krankheit und wie es ihnen damit ging, wie viel Panik und Verzweiflung die Diagnose Morbus Huntington bei ihnen auslöste. Die Gruppe bietet ihnen Information und Zusammenhalt und nicht zuletzt Menschen, die ihr Schicksal teilen. Alles das hilft ihnen, jenseits der Angst mit dieser nicht heilbaren Erbkrankheit zu leben und dazu zu stehen.

Nach wie vor schämen sich viele der an Huntington Erkrankten. Für die Nationalsozialisten waren sie „lebensunwert“, wurden verfolgt und ermordet. Familien verdrängten die Krankheit, schwiegen und schoben Symptome auf Alkoholsucht oder andere Ursachen. Diese Vergangenheit wirkt noch immer nach. So eine Krankheit hatte man nicht, sagen die beiden Gründer. „Erst jetzt, in Jörgs Generation, stehen Erkrankte langsam zu ihrer Krankheit“, meint Andrea Reinhold.

Auch Jörg Gohlke sagt von sich, dass er anfangs ein „Verdrängungskünstler“ war und es manchmal noch immer ist. Seine Familie ging relativ offen damit um, dass sein Vater an Huntington erkrankt war. Die Wahrscheinlichkeit für die Kinder zu erkranken beträgt 50 Prozent. Erst als bei seinem Bruder erste Symptome auftraten, ließ Jörg Gohlke 2002 einen Gentest machen. Das Testergebnis bestätigte, dass auch er den genetischen Defekt hat. Bei ihm ist er individuell so ausgeprägt, dass er zu einem späteren Erkrankungszeitpunkt und einem langsameren Verlauf führen kann als bei anderen. Der 55Jährige könnte also Glück haben. Doch so genau weiß das niemand.

Viele Erkrankte reagieren zuerst einmal mit Panik vor einem möglichen Ausbruch der Krankheit. Auch Jörg Gohlke machte Phasen der Angst und Abwehr durch. Ganz normale Vergesslichkeit oder Wut lösten bei ihm die Angst vor dem Beginn der Krankheit aus, da dies auch Symptome von Morbus Huntington sein könnten. Eine Verhaltenstherapie half dem 55-Jährigen, zu der Krankheit zu stehen und mit ihr und den daraus resultierenden Folgen so gut wie möglich zu leben.

Die Gefühle werden verstanden
Seine Lebensgefährtin Andrea Reinhold ging das Thema aktiv an. Sie nahm schon früh Kontakt zu der Selbsthilfeorganisation „Deutsche Huntington-Hilfe“ auf und informierte sich ausführlich. Dort schlug man vor, in Kassel eine Selbsthilfegruppe ins Leben zu rufen. Nach längerem Zögern siegte der Wunsch zu erfahren, ob es in Nordhessen weitere Erkrankte gibt. Beide meldeten sich bei der KISS und führten ein Erstgespräch mit der Leiterin Carola Jantzen. Mittlerweile trifft sich die Gruppe regelmäßig alle zwei Monate.

Die Erkrankten und ihre Angehörigen lernen in der Gruppe voneinander. Ihre Gefühle werden von den anderen verstanden. Andrea Reinhold ist es wichtig, Sachlichkeit herzustellen. „Damit Betroffene sich auf das Hier und Jetzt konzentrieren und die Probleme lösen, die akut anstehen, ohne in Panik zu verfallen“, schildert sie. Das Gefühl der Scham verringert sich, wenn andere offen mit der Krankheit umgehen. Ein Teilnehmer geht zum Beispiel mit seiner erkrankten Frau, die mittlerweile im Rollstuhl sitzt und das Besteck nicht mehr selbst halten kann, in „normalen“ Restaurants essen. Eine mögliche Ermutigung für andere, sich nicht länger zu verstecken.

Die Teilnehmenden der Gruppe tauschen sich über Möglichkeiten der Hilfe aus und darüber, wo man Experten für Morbus Huntington findet. Sie sollten so frühzeitig wie möglich Kontakt zu den medizinischen Fachzentren aufnehmen, die auf die Krankheit spezialisiert sind (beispielsweise in Bochum oder Münster), sagt Andrea Reinhold. Denn schon die richtige Diagnose kann dauern, da die Symptome auch bei anderen Krankheiten auftreten können. Ein an Huntington erkrankter Mann wurde beispielsweise lange auf eine Schilddrüsenkrankheit behandelt, andere bekamen die Diagnose Muskelkrankheit. Bei Jörg Gohlke blieb umgekehrt eine Schlafapnoe jahrelang unerkannt. Erst jetzt bekam er ein entsprechendes Sauerstoffgerät für die Nacht und schläft besser. Dadurch hat er enorm an Lebensqualität gewonnen.

Was sich die beiden Gruppengründer von der Gesellschaft und vom Umfeld wünschen? Mehr Akzeptanz, sagen beide. Die Krankheit müsse öffentlich und sichtbar werden, um so die Berührungsängste der Gesellschaft vor Huntington-Familien abzubauen.

Infos zu Morbus Huntington
Die Huntington-Krankheit ist eine sehr seltene, vererbbare Erkrankung des Gehirns. In Deutschland sind etwa 8 000 Menschen betroffen. Sie bricht meist zwischen dem 35. und 45. Lebensjahr aus. Der Verlauf ist von Patient zu Patient verschieden. Viele Patienten leiden unter Bewegungsstörungen oder psychischen Veränderungen. Im fortgeschrittenen Stadium gehen die intellektuellen Fähigkeiten zurück, später kommt es häufig zur Demenz. Ursache der Krankheit ist ein verändertes Gen (Genmutation).
Die Huntington-Krankheit wird auch Chorea Huntington oder Morbus Huntington genannt, früher Veitstanz. Die Bezeichnung rührt von den typischen, zeitweisen unwillkürlichen und unvorhersehbaren Bewegungen her. Zusammen mit dem unsicheren Gang und dem Grimassieren können diese Symptome entfernt an einen Tanz erinnern. Bisher kann die Huntington-Krankheit nicht ursächlich behandelt werden. Medikamente können die Symptome mindern. Neben dem frühzeitigen Kontakt zu einem auf Huntington spezialisierten medizinischen Zentrum und der medikamentösen Therapie sind Krankengymnastik, Beschäftigungstherapie sowie Sprechtraining wichtig.
Quelle: huntington-hilfe.de

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